Zeit oder das eigene Universum im Kopf


Hin und wieder sehe ich mich mit der Frage konfrontiert: „Woran liegt es wohl, dass die Zeit so rast?“ An der Zeit selbst liegt es sicher nicht, sie ist immer dieselbe – ein gleichmäßiger Strom. Aber wir verändern uns. Wir reifen und sammeln Erfahrungen. Die eigene Dimension gelebter Lebensjahre wächst kontinuierlich wie ein Berg; die Zeit hingegen fließt ebenmäßig und scheinbar unendlich in der Horizontalen.

Als ich die Grundschule verließ, begann ich in „Grundschulzeit“ zu rechnen, also in Abschnitten von vier Jahren. Das erschien mir damals als riesige Dimension, aber kalkulierbare Rechengröße. Jedoch – was sind „heute“ vier Jahre? Ich meine, die Vielzahl meiner gelebten Jahre – in diesem Monat vollende ich die 50 – auch das ist eben nicht von heute auf morgen geschehen. Es ist passiert – sukzessive, nicht schneller und nicht langsamer als jeder andere Tag und jedes Jahr in meinem Leben vergingen. Und wenn ich dann meine kindliche Gewohnheit bemühe, in Vier-Jahre-Zyklen zu rechnen, dann erscheint mir dieser Zeitraum, schlicht ausgedrückt, in Relation zur Gesamtsumme meiner bis heute gelebten Jahre, als kurzer Wimpernschlag.

Und damit ist das Rätsel weitestgehend gelöst, denke ich: Die Sekunde verschwindet in der Minute, die Minute in der Stunde, das einzelne Jahr in der bewältigten Lebenszeit. Die Relation ist es, die dieses Gefühl auslöst, nicht eine Eigenbeschleunigung der Zeit. Das ist Einsteins Relativitätstheorie – sehr vereinfacht dargestellt.

Und so hat jeder von uns sein eigenes lebendiges Universum im Kopf. Das sind all die persönlichen Erlebnisse, die uns von unserem ersten Schrei an begleiten und sich, in Form von Engrammen, tief in unser Gedächtnis einbrennen. Wenn wir geboren werden, haben wir dafür natürlich noch keine Begrifflichkeiten. Das Erinnern beginnt da, wo uns frühkindliche Erlebnisse entscheidend prägen und bewegen und wir diese in Bildern sowie Worten reproduzieren können. Bei Erinnerungen handelt es sich um quasi fotografische Eindrücke oder auch um vor unserem geistigen Auge ablaufende Filme, begleitet von Gesagtem und Gehörtem. Sogar Gerüche können wir in unserem Innern wieder beleben.
Viele Erinnerungen sind wunderschön, andere nicht. Es sind die von intensiven Gefühlen begleiteten Erlebnisse, die sich tief in unser Gedächtnis einprägen.

Meine erste Erinnerung ist die eines Pseudokruppanfalls, weil ich Todesangst hatte. Ich konnte früh sprechen. …Ich bin anderthalb Jahre alt (meine Mutter jedoch meint, ich müsse zwei ein halb gewesen sein). Jedenfalls sehe ich mich verzweifelt aus dem Gitterbett klettern, begleitet von wahnsinnigen Rachenschmerzen und bellendem Husten und einer quietschenden Stimme, die versucht erhört zu werden: „Mama, Mama, ich kann nicht mehr reden!“…

Es sind die tief berührenden Emotionen, die dafür sorgen, dass wir nicht vergessen. Je emotionaler ein Mensch ist, desto mehr weiß er und desto mehr versteht er. Diese Erinnerungen sind uns in ihrer Gesamtheit natürlich nicht ständig präsent; das wäre ja auch kaum zu ertragen. Stattdessen wurden all die bewegenden Momente kategorisch und sauber in unseren persönlichen Gedächtnisschubladen abgelegt. Diese Schubladen können wir bei Bedarf öffnen, und manchmal springt eine solche Schublade spontan von selbst auf, zum Beispiel dann, wenn uns plötzlich ein wohlbekannter Duft aus unserer Kindheit in die Nase steigt. Scheinbar längst Vergessenes bemächtigt sich unserer, aufgrund einer Assoziation. So kann ein winziges Detail, das im Alltag an uns vorüber zieht, unter Umständen einen wahren Gefühlssturm auslösen.

Nichts jedoch sorgt dafür, dass uns die Zeit buchstäblich aus den Händen rinnt oder dass sie uns jemand stiehlt. Die Zeit vergeht, aber sie gehört uns selbst. Es ist an uns, sie täglich lebens- und liebeswert zu gestalten und, neben aller Pflichterfüllung, bewusst mit besonderen Momenten zu füllen.

Text und Foto: Medienagentur Niederrhein, Susanne Jansen

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