Günther Tlotzek – ein bewegtes Leben


– Die weise Heilkundige –

Eine Kindheit in Ostpreußen (Teil 4)

Günther Tlotzek erblickte im Jahr 1923, im ostpreußischen Landkreis Rastenburg das Licht der Welt. Er wuchs, gemeinsam mit zwei Brüdern und einer Halbschwester, bei seiner Mutter auf. Dies ist die Fortsetzung seiner Kindheitserinnerungen.

Kaldenkirchen (sp). Günther Tlozek:Wie ich schon erzählte, verbrachte ich in meiner Kindheit viel Zeit bei meinen Großeltern, die mich bereits früh viele lebenswichtige Dinge lehrten.

Während der Beerenreife gingen wir, sobald die ersten morgendlichen Sonnenstrahlen durch das Dickicht brachen, in den Wald und sammelten pralle, süß duftende Himbeeren, Blaubeeren und Brombeeren. Köstlich! Natürlich war der Proviant, den meine Oma zuvor wohl meinend eingepakct hatte, da überflüssig, denn schließlich schlugen wir uns mit den ersten betörend leckeren Früchten zunächst zufrieden den Bauch voll. Nachschub gab es ja in Hülle und Fülle, so dass auch die mitgebrachten Eimer sich schnell für den Heimweg füllten.

Auch gesundes Gemüse bekamen wir zu essen, so schafften wir zum Beispiel die verbliebenen geplatzten Kohlköpfe von den abgeernteten Kohlfeldern mit dem Rad nach Hause, und Oma kochte anschließend eine große Tonne Sauerkraut für die ganze Familie. Und wenn dann auch noch das Getreide abgeerntet war, flogen wir Kinder wie kleine fröhliche Wirbelwinde zu den sommerlichen Stoppelfeldern und sammelten die Ähren vom Boden auf. Dies taten wir überwiegend barfuß, um, so, wie es Usus war, die teuren Schuhe zu schonen.

Damit mich die Stoppeln auf dem Feld nicht zu sehr pickten, musste ich recht flachen Fußes laufen. Die gesammelten Ähren wurden dann auf dem Hof getrocknet, anschließend in ein Kopfkissen gesteckt und mit dem Teppichklopfer gedroschen, bis sich die Schlaufen vom Korn lösten. Sobald es windig wurde, verteilte meine Oma alles auf einem Bettlaken, das an zwei Seiten fest in die Hände genommen, ruckartig gestrafft und wieder gelöst wurde. Derart wurden beim stramm Ziehen Schlaufen und Korn in die Höhe gewirbelt, so dass die leichteren Schlaufen vom Wind zur Seite geblasen wurden, während das gewichtigere Korn wieder auf dem Laken landete. Nach getaner Arbeit brachten wir die Ausbeute zur Mühle, und Oma bekam das Mehl, das nach Abzug des Preises für das Mahlen übrig blieb.

Beim Gerstenkorn verfuhr meine Oma nach der gleichen Prozedur, nur dass sie das Korn selbst verarbeitete – sie brannte köstlichen Kornfrank („Muckefuck“) daraus. Für das Brennen verwendete sie eine Spezialpfanne, die oben geschlossen und mit einem Rührwerk ausgestattet war, das stetig betätigt werden musste. Wenn ich meine Oma besuchte, musste ich eine hügelige Straße hinunter laufen und bereits zu Beginn nahm ich den intensiven Brandgeruch wahr. Damit die Nachbarn sich nicht über denselben mokierten, bekamen sie alle einen Teil des Kornfranks ab. Denn die meisten Menschen konnten sich den teuren Bohnenkaffee nicht leisten,. Natürlich hatte aber auch der „Muckefuck“seinen Preis.

Immer wieder, wenn ich heute mit leichter Wehmut an meine geliebte Oma zurück denke, fällt mir ein, dass sie auch eine weise Heilkundige war, was ich sehr bewunderte. So begleitete ich sie auch häufig beim Sammeln von Wildkräutern, die sie reinigte und trocknete und an die Apotheke in der Stadt verkaufte. Von dem Geld erwarb sie selbst Vaseline und Tiegel, um den einbehaltenen Rest der Kräuter in einem Mörser zu zerstoßen und so hochwirksame Heilsalben zu mischen.

Aus Erfahrung und weil es eine schwierige Zeit war, kannte sich meine Oma auch mit vielen Heilmethoden aus. Einmal zum Beispiel habe ich mir meine Hand an einem rostigen Nagel verletzt. Schnell offenbarte sich durch einen roten Streifen auf der Haut eine Blutvergiftung, und es wurde lebensgefährlich für mich kleinen Knirps. Doch Oma war mal wieder meine Retterin in der Not – sie weichte ein trockenes Brötchen in Milch auf, legte es sodann auf meine Wunde, erneuerte dies eins ums andere Mal – und siehe da: der rote Streifen schwand, während die Wunde zugleich heilte.

Als schließlich mein Opa starb, war ich froh, dass ich wenigstens noch meine liebe Oma hatte. Meine Mutter musste sehr viel arbeiten und so war und blieb meine Oma auch in den Folgejahren meiner Jugend, meine engste Vertraute. Ihr konnte ich ohne Scham und Scheu meine intimsten Gedanken mitteilen, jederzeit stand sie mir gütig mit ihrem großen Herz und weisen Ratschlägen zur Seite.

Worauf ich als nächstes eingehen möchte, ist die Geburt meiner bisher noch nicht erwähnten Halbschwester Waltraud, deren Vater Unmögliches von meiner Mutter suchte zu verlangen.“

Fortsetzung folgt…

Bilder: Der kleine Günther und seine Oma Auguste Nossenheim. 

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Hat viel von seiner geliebten Oma gelernt: der kleine Günther. Foto: Tlotzek