– Susanne Jansen im Interview mit Sandra und Reinhard Schlitter –
Am Abend des 3. September 2010 verschwindet der zehnjährige Grefrather Mirco spurlos, als er sich mit seinem Fahrrad auf dem Heimweg von der Oedter Skaterbahn befindet. Fünf Monate lang erleben seine Eltern und Geschwister ein intensives Wechselbad von Hoffen und Bangen. Der Einsatz der „Sonderkommission Mirco“, mit 80 Beamten und intensiven Suchaktionen, gilt als eine der aufwendigsten Mordermittlungen in Deutschland. Dann die traurige Gewissheit: Mirco ist tot.
Sandra und Reinhard Schlitter erzählten Nettetal aktuell, wie sie diese Zeit schrecklicher, jedoch auch von Zuversicht geprägter Momente erlebten und sich dabei vertrauensvoll von ihrem Glauben tragen ließen. Aber auch wie das Leben weitergeht.
An dem betreffenden Abend waren sie beide unabhängig voneinander davon ausgegangen, dass Mirco, nach seiner kurzfristigen telefonischen Ankündigung, mittlerweile heimgekehrt war und bereits schlief. Energieraubende Schuldzuweisungen gab es nicht. Wie ist es Ihnen gelungen, von Anfang an derart partnerschaftlich zusammen zu arbeiten?
Sandra Schlitter Man stellt sich das ja selber vor. Wenn ich im Büro oder Keller beschäftigt bin und Mirco eh schon etwas später heim kommt, da habe ich mir gedacht: Als Kind hätte ich das genauso gemacht, dass ich Mama und Papa nicht begegne, sondern schnell in mein Bett husche, bevor da die Standpauke kommt. Die wäre nicht dramatisch gewesen, aber als Kind, gehe ich dem lieber aus dem Weg.
Nach dem Verschwinden habe ich gefragt: „Reinhard, wie ist das für dich?“ Und da waren wir uns einig, dass es keinen Grund gab, sich gegenseitig Vorwürfe zu machen. Oft ist es ja auf menschlichen Beziehungsebenen so, dass das eigene empfundene Schuldgefühl von sich geschoben wird. Wir wussten nicht: Was kommt auf uns zu? Dann hatte man den ersten Tag mit der Polizei hinter sich, die ganzen Verhöre. Und da habe ich gesagt: Das Wichtigste bleibt, dass wir an einem Strang ziehen, damit es für uns alle nach vorne geht! Erst im Nachhinein wurde uns allmählich klar, dass diese einhellige, partnerschaftliche Einstellung uns da auch wirklich kraftvoll durchgetragen hat.
Reinhard Schlitter Das stimmt! Es hätte uns nicht geholfen, wenn wir uns auf „hätte, wenn und aber“ konzentriert und uns gegenseitig Schuld zugewiesen hätten, das wäre in einer Sackgasse gemündet. Das Wichtigste war für uns der gemeinsame Blick nach vorne. Deshalb haben wir bewusst entschieden: Die voraus gegangenen Umstände sollen uns nicht belasten!
Auch für seine Geschwister war es schrecklich, dass ihr Bruder plötzlich spurlos verschwunden war. Wie habt ihr es den Kindern erklärt?
Sandra Schlitter Ich hatte als Metapher sofort eine Autobahn im Kopf. Auf der einen Spur gab es das Leid, da gab es Schwierigkeiten, und auf der anderen Spur ging es für uns weiter. Es kamen ja auch täglich Mitarbeiter des Opferschutzes, sie waren zugleich Seelsorger und Sprachrohr zum dem Leiter der unserer Sonderkommission, Ingo Thiel. Zwischendurch gab es dann schon mal neue Informationen, wie dass Mircos Kleider gefunden worden waren. Die Kinder fragten dann: Läuft Mirco jetzt nackt durch die Welt? Da habe ich gesagt: Entweder so oder man hat ihm andere Sachen angezogen, damit man ihn nicht erkennt. Und dann kam Post von der Gemeinde. Zu Hause war auch schon für Mircos Geburtstag geschmückt. Der Bürgermeister wollte gerne ein „Event für Mirco“ machen. Eine Art Party wollten wir aber nicht. Und dann schlug er einen Gottesdienst vor, bei dem sich alle Kirchen zusammen tun sollten. Und das haben wir gerne unterstützt. Wir sind für uns, mit den Kindern, zu Hause geblieben und haben gebetet. Aber alleine der Gedanke, dass da jetzt Menschen sind, die für Mirco und für auch für uns beten, mit dem Ziel ihn zu finden – das war schon beeindruckend. Und da habe ich zu den Kindern gesagt: So etwas würde es alles nicht geben, wenn unser Schicksal jetzt nicht hier wäre. Den Kindern hat das Jugendamt dann für die Herbstferien noch spezielle Ferienmaßnahmen ermöglichen wollen. Das wollten sie selbst aber gerade in dieser Situation nicht. Deshalb wurde für uns alle eine Ferienwohnung an der deutschen Nordsee gebucht. Dafür waren wir sehr dankbar, das waren Geschenke in dieser schwierigen Zeit! Als Urlaub war es zwar auch komisch, weil Mirco nicht da war, aber die Polizei hätte uns innerhalb von zwei, drei Stunden kontaktieren können, wenn sich etwas Neues ergeben hätte. Wir hatten während der ganzen Zeit einen sehr guten Kontakt, das hat uns Sicherheit gegeben. Und das waren genau die Punkte, die ich mit der Überholspur für die Kinder und für uns in Verbindung gebracht habe.
Wie sind die Kinder mit dem schrecklichen Verlust ihres Bruders und der ungewissen Situation umgegangen?
Sandra Schlitter Sie sind nach wenigen Tagen wieder zur Schule gegangen, sie haben selbst weiter die Normalität gesucht. Es ist ganz wichtig, dass man sich nicht absondert, sondern versucht das sichere Umfeld gemeinsam aufrecht zu erhalten, wie es auch vor Mircos Verschwinden war. Das haben sie bewusst für sich entschieden und gelebt. Sie hatten ja sechs Wochen Ferien gehabt, dann folgte eine Woche Schule und dann das Verschwinden Mircos. Die Kinder haben gesagt: „Mama, wir können uns nicht vorstellen, wieder hier zu Hause herum zu sitzen.“ Damit haben sie sogar uns aus der Reserve gelockt, im Sinne von: „Hey, wir brauchen jetzt auch Unterstützung!“ Sie haben in dieser Zeit auch an Klassenfahrten teilgenommen. Ich wollte ihnen zu keiner Zeit etwas vorschreiben, weil ich dachte, sie würden mir das ein Leben lang vorhalten, wenn ich es ihnen nicht erlaubt hätte. Und ich wollte mich als bewusstes Vorbild auch nicht aus Angst verhalten. Wir wussten ja, wo sie sich aufhalten, und wenn etwas gewesen wäre, wäre sofort einer von uns dorthin gefahren. Es gab auch immer wieder einzelne, herzzerreißende Momente, wie diesen: Unsere jüngste Tochter, die eine Woche vor Mircos Verschwinden neun Jahre alt geworden war, hatte immer Schwierigkeiten, zu verstehen, dass ihr knapp zwei Jahre älterer Bruder, der 14 Tage nach ihr seinen Geburtstag feierte, der Ältere von ihnen beiden war. Viel später sagte sie dann: „Mama, jetzt bin ich plötzlich älter als Mirco damals, ich habe ihn überrundet mit der Zahl! Passiert mir jetzt das Gleiche wie ihm?“ Sie hat sich wirklich Sorgen gemacht, das war schon hart. Aber ich konnte sie dann beruhigen, indem ich ihr sagte: „So etwas passiert nicht nochmal!“
Wie sah die Zusammenarbeit mit der Polizei aus, wie gestaltete sich der Kontakt und Informationsfluss?
Reinhard Schlitter Ingo Thiel, den Leiter der Sonderkommission, haben wir selten gesehen, wir hätten ihn aber zu jeder Tages- und Nachtzeit persönlich anrufen können. Die Zusammenarbeit mit der Polizei war uns sehr wichtig, wir wollten Herrn Thiel aber nicht belästigen. Wir wussten ja auch: Er gibt alles! Wenn markante Punkte in den Vordergrund rückten, kam er dann mal selbst zu uns nach Hause, ansonsten hatten wir regelmäßig den Kontakt mit dem Opferschutz. Das waren quasi Seelsorger, sie wussten alles über Mirco, und sie waren Sprachrohr zwischen der Sonderkommission und uns. Wir haben uns mit ihnen locker unterhalten und die wichtigsten Infos bekommen. Parallel haben sie auch Unternehmungen mit unseren Kindern gemacht und sind dabei sehr empathisch mit ihnen umgegangen. In diesem Sinne haben wir natürlich auch gemerkt, dass wir von ihnen abhängig waren, um weiter zu kommen: Sie hatten die Erfahrung.
Deshalb war uns die gute Zusammenarbeit mit der Polizei sehr wichtig, wir haben darauf vertraut, dass sie Mirco finden. Wissen kann man es natürlich nicht. Die Polizei hat uns später auch sehr hoch angerechnet, dass wir nicht zusätzlich „unsere eigenen Wege“ gegangen sind, so dass die Ermittlungen auch nicht gefährdet wurden. Sie sagten, es habe schon Fälle gegeben, bei denen ein solches Verhalten extra Baustellen aufgemacht und Ermittlungen behindert habe. Ich hätte auch gar nicht gewusst, wo ich selbst anfangen soll, deshalb haben wir viel Vertrauen und Hoffnung in ihre Arbeit gelegt.
Wie ging es nach der ersten bedrückenden Zeit – Befragung durch die Polizei, Ermittlungen und Belagerung durch die Presse weiter?
Sandra Schlitter Als das vorbei war, haben wir eine gut gemeinte Reha-Maßnahme erhalten, um als Familie wieder runterzukommen. Das war für uns das Schlimmste: Die Kinder waren so schräg drauf, weil sie aus dem Gewohnten herausgerissen wurden und sich spontan vor fremden Menschen öffnen und das Erlebte erklären mussten. Das war ihnen unangenehm, sie wollten es nicht. Ich habe das bedingt verstanden – alles, was wir dort gemacht haben, fanden sie irgendwie doof. Ich selbst hatte erwartet, dass das jetzt wie ein schöner Urlaub wird. Die Reha-Spezialisten haben sich wirklich Mühe gegeben und uns viel Freizeit gelassen. Aber unseren Kindern fehlten einfach ihre Freunde, die alles von der ersten Sekunde an wie ein Fels in der Brandung begleitet hatten. Und kaum waren wir wieder zu Hause, waren sie wie ausgewechselt. Sie haben ihre Kumpels kontaktiert und interagierten wieder sofort vertrauensvoll und unbefangen mit ihnen. Das ist auch der Grund, warum wir uns als Familie nicht hätten vorstellen können, in einen anderen Ort zu ziehen.
Reinhard Schlitter Wären wir umgezogen, hätten wir uns erklären müssen, auf welcher Grundlage wir dieses oder jenes getan haben oder auch nicht. Mittlerweile kannte uns ja sowieso fast jeder. Wir hätten alle neue Freunde finden müssen, und da müsste ja grundsätzlich erstmal Vertrauen wachsen. Das braucht alles Zeit. Ich denke auch, es hätte sich eher wie eine Flucht angefühlt, und da hätten uns dann wieder sämtliche Begleitumstände eingeholt, und es wären neue Belastungen entstanden.
Sandra Schlitter Unsere Kinder hatten ja auch immer noch die Hoffnung, dass Mirco gleich wieder durchs Gartentörchen hereinspaziert oder dass jemand klingelt und ihn nach Hause bringt. Sie wollten darauf vorbereitet sind. Und wir selbst sind ebenfalls so gut integriert in unsere weitläufige Familie, in Freundschaften und Nachbarschaft – das wollten wir nicht aufgeben. Unser direktes Umfeld hat uns eben auch sehr geholfen, sie haben zum Beispiel sich aufdrängende Medienmenschen ferngehalten. Wenn man dann in einen anderen Ort ziehen würde, wäre man zusätzlich entwurzelt und auf sich allein gestellt.
Sie haben, als der Täter schließlich im Gefängnis war, ihm persönlich vergeben. Das hat für viel Diskussionsstoff gesorgt, weil Menschen es nicht verstanden haben.
Sandra Schlitter Das war ein Abgeben – für mich selbst. Viele dachten: Jetzt ist sie lieb Kind mit dem Täter, oder man hat ihm sogar in der Konsequenz die erhaltene Strafe abgeschwächt. Das ist aber eine Interpretation von außen und hat nichts mit unseren eigenen Gedanken und Gefühlen und mit den Tatsachen zu tun! Wenn ich eine Vergebung ausspreche, dann heile ich mich selbst. Deshalb „abgeben“ – das ist ein Prinzip. Wenn ich mir stattdessen immer wieder bildlich vorstelle, was er mit meinem Kind gemacht hat, dann entwickle ich eine Abwärtsspirale. Und da ist es sehr schwierig wieder einen Weg hinaus zu finden, so wie ich das auch plastisch in meinem Buch beschrieben habe. Denn dann beschäftige ich mich nur noch mit mir selbst, mit meinem Leid und meinem Schmerz. Und ich habe immer gedacht: Da sind ja noch unsere drei weiteren Kinder, die mir ebenfalls anvertraut sind und die ich nicht alleine lassen will. Die Vorstellung sie in meinem eigenen Schmerz quasi fallen und alleine zu lassen – das gab es bei mir einfach nicht. Natürlich musste ich auch mal zu einem Termin, da war ich dann mal kurz nicht zu Hause. Aber ich war nie länger weg und habe mich immer gekümmert. Vor allem war es in unserem Haushalt wichtig, dass wir Fünf respektvoll auf einen Nenner kommen und gemeinschaftlich durch die Zeit gehen, denn jeder ging ja auch mit seiner Trauer anders um. Und grundsätzlich Vergebung auszusprechen, das ist immer wieder eine bewusst wiederkehrende Entscheidung, die ich in meinem Leben treffe: Das macht etwas mit mir und mit meinem Herzen – es befreit.
Schließlich gab es die Verfilmung Ihrer Geschichte mit dem Titel „Ein Kind wird gesucht“, die im ZDF ausgestrahlt wurde. Wie authentisch ist der Film?
Sandra Schlitter Wir mussten lernen, den Inhalt mit anderen Augen zu sehen, weil es ein Krimi ist und keine zu 100 Prozent auf Fakten basierte Dokumentation. In das Drehbuch habe ich richtig viele „Post its“ mit kleinen Änderungen geklebt. Und dann hatten wir schließlich den Regisseur bei uns zu Hause, und mit den Schauspielern haben wir uns in Köln getroffen. Authentizität war uns wichtig, weil wir ja auch mit den Vorträgen unterwegs waren. Menschen glauben eins zu eins, was sie im Film sehen. Und ich wollte mich nicht zukünftig immer wieder dafür rechtfertigen und erklären müssen, warum etwas im Film anders dargestellt ist. Jedenfalls ist der rote Faden im Film schon recht authentisch, damit konnten wir leben. Deshalb war auch zuvor unser Austausch mit den Schauspielern wichtig, damit sie sich in unsere vollständige Lebenssituation und unseren Glauben hineinversetzen konnten. Das brachte sie in die Lage, unser emotionales Erleben, unabhängig von der eigenen Bewertung, realistisch transportieren zu können. Das haben sie richtig gut hingekriegt.
Reinhard Schlitter Wir wollten natürlich auch nicht in einem falschen Licht erscheinen. Darauf haben wir im Detail Einfluss gehabt. Natürlich war es für die Schauspieler auch nicht einfach. Szenen in Spielfilmen sind häufig dramatischer, zum Beispiel wenn es um Kraftakte und Aggression geht, und das gab es ja bei uns nicht. Hier ging es halt um die Gratwanderung zwischen Drama und Dokumentation, die sie tatsächlich recht gut hingekriegt haben, mit der Arbeit der Sonderkommission im Fokus.
In dem Film gab es eine Szene, in der die Ermittler gerührt waren, weil sie von Ihnen mit Nikolauspräsenten überrascht wurden. Haben Sie das genauso gemacht?
Sandra Schlitter Oh ja! Wir haben zu Hause mit den Kindern gebastelt, beim Bäcker habe ich Weckmänner bestellt, und dann sind meine Mutter und ich mit riesigen Wäschekörben nach Mönchengladbach gefahren. Ich erinnere mich noch genau: Es war spiegelglatt – an solchen Tagen wird empfohlen, lieber zu Hause zu bleiben, wenn man nicht unbedingt fahren muss. Die Polizisten haben gestaunt, als wir ankamen und gefragt: „Ihr kommt jetzt zu uns mit Nikolausmützchen?“ Und dann habe ich gesagt: „Ihr tut so viel für uns, jetzt müssen wir mal was für euch tun.“ Ingo Thiel hat das genau verstanden. Die Polizei hatte ja im Vorfeld auch immer wieder gefragt, wie ich mich fühle. Es war schwierig, zu verstehen, dass ich mich irgendwie durch meinen Glauben getragen fühlte und einfach dankbar war. Wir haben ihnen dann bei dieser Gelegenheit ein Poster, mit dem Gedicht „Spuren im Sand“, mitgebracht, aus dem ich zuvor zitiert hatte. Diese Metapher konnten sie dann verstehen. Sie haben das Poster im Flur der Polizeistation aufgehängt, und der Pressesprecher der Polizei sagte später: „Wir stehen so oft davor, das ist für uns ein Ruhepunkt geworden, um nachzudenken und die Gedanken loszulassen.“ Die Polizisten haben mich auch mal gedrückt, das wurde für mich wie eine Soko-Familie. Sie fühlten sich dazugehörig, sie wussten ja von uns jede Kleinigkeit über Mirco. Sie fragen auch heute noch, wenn wir uns zufällig über den Weg laufen, wie es uns geht. Das finde ich schön: Wir haben ein prägendes Stück des Lebensweges geteilt, und man hat uns nicht vergessen. Und sie, ebenfalls Eltern, haben quasi ihre Familie verlassen und waren dann Tag und Nacht in der Soko-Arbeit für uns und unser Kind. Wir waren sehr dankbar, es war uns wichtig zu zeigen, dass wir diesen Einsatz nicht selbstverständlich fanden, sondern dass es weit über die Erfüllung eines Jobs hinausging.
Wie hat euch euer tiefer Glaube geholfen?
Sandra Schlitter Ich habe Gott persönlich erlebt; ich glaube, dass wir Gott aufnehmen müssen, um unser Leben mit ihm gehen zu können. Damit gebe ich mein Leben in seine Hand, das ist eine bewusste Entscheidung. Ich denke, es ist ein Unterschied, ob man oberflächlich feststellt, an Gott zu glauben, weil man ein Bild in der Bibel anguckt, oder ob man es aus tiefstem Herzen fühlt und eine lebendige Vorstellung von ihm hat.
Reinhard Schlitter Ich weiß, dass Gott alles in seiner Hand hat und uns führt. Daraus ergab sich für mich die innere Gewissheit, dass alles gut wird. Viele Menschen haben zu uns gesagt: „Wie kann es Gott für euch geben, wenn so etwas Schlimmes wie mit Mirco passiert?“ Ich finde aber, man sollte dabei nicht vergessen, dass wir Menschen freie Entscheidungen treffen dürfen und können. In diesem Sinne passieren auch viele hässliche Dinge im Leben. Aber da ist ja jeder Mensch in der eigenen Verantwortung. Wir selbst konnten uns den Fortgang bei der Suche und der Aufklärung dessen, was passiert war, natürlich nicht vorstellen. Wir haben für uns entschieden: „Gott, wir vertrauen dir, dass du gerade weißt, was das Richtige ist und was passiert.“ Ich denke, wenn es einen Gott gibt, dann möchte er eine Beziehung zu uns haben. Und wir haben eine verantwortungsvolle Beziehung mit ihm. Das ist eine essenzielle Sichtweise aus Überzeugung, mit der Akzeptanz der Konsequenzen. Wir haben allerdings nie den Anspruch geäußert, immer alles richtig gemacht zu haben. Jeder der mit dem Finger auf uns gezeigt hat, sollte aber erstmal das eigene grundsätzliche Verhalten reflektieren. Über andere zu richten, ist leicht: Das Problem beim Verschwinden Mircos war der Täter, nicht wir.
Wie sind Sie damit umgegangen, dass Sie in der schweren Zeit quasi öffentliche Personen waren?
Sandra Schlitter Zeitungsartikel über die Tat habe ich überwiegend viel später gelesen. Die Polizei hatte mir von Anfang an geraten, mich nicht damit zu befassen. Dann habe ich doch ein paar Sachen gelesen und war fassungslos. Ich habe mich immer mehr aufgeregt, bis mein Sohn sagte: „Mama, mach‘ den Laptop zu, sonst nehme ich ihn dir weg!“ Und dann habe ich gedacht: Wenn Du Dich jetzt weiter mit diesen Unterstellungen beschäftigst, dann hast du nachher natürliche Gedanken, die du einfach nicht haben willst. Deshalb habe ich es gelassen und mich nicht weiter belastet. Unterstellungen in der Öffentlichkeit bin ich allerdings direkt sehr souverän begegnet, um den Leuten den Wind aus den Segeln zu nehmen. Einmal ist es mir passiert, dass eine Frau mit mir überging und sagte: „Ich verstehe die Eltern nicht, dass sie ihr Kind alleine mit dem Rad fahren lassen konnten.“ Als sie über die Schulter sah und mich entdeckte, war es ihr furchtbar peinlich. Da habe ich gesagt: „Das muss dir nicht peinlich sein, es sind doch deine Gedanken.“ So etwas offenbart natürlich auch, dass Menschen manchmal ganz anders sprechen, als sie denken, vor allem den Betroffenen gegenüber. Viele kannten uns ja auch. Aber die öffentliche Vorstellung von uns wandelte sich zum Glück komplett in die verständnisvolle Richtung, als unser Appell an den Täter im Fernsehen ausgestrahlt wurde.
Sie haben ein Buch über den Verlust von Mirco veröffentlicht, mit dem Titel: „Verlieren. Verzweifeln. Verzeihen.“. War das für Sie auch eine Form der Aufarbeitung?
Sandra Schlitter Ich hatte schon länger die Absicht, ein Buch zu schreiben und hatte mir im Laufe der Zeit viele Notizen gemacht. Mirco war ein Junge, der mit seinem ausgeprägten Gerechtigkeitssinn und mit seiner Art anzuecken, unter den anderen Kindern auffiel. Und ich hatte immer die Einstellung: Egal was unsere Kinder verbocken oder was passiert – wir stehen dahinter und helfen ihnen, es gerade zu biegen. Einmal hatte Mirco, gemeinsam mit anderen Kindern, im Unterricht Papierkügelchen auf die Lehrerin geschossen. Ich habe ihm gesagt, dass er sich eigentlich entschuldigen müsse. Aber die Entscheidung lag halt bei ihm. Nach seinem Verschwinden hat mir die Lehrerin erzählt, dass sie Mirco bewundert habe, weil er von selbst gekommen war, um sich zu entschuldigen. Das habe etwas mit ihr gemacht, weil es ihm also menschlich wichtig war – den anderen beteiligten Kindern offensichtlich nicht. Da habe ich dann gesehen, dass er die Werte, die für uns als Familie im Vordergrund standen, zum Beispiel Respekt, bereits verinnerlicht und umgesetzt hat.
Reinhard Schlitter Wir haben in jener Zeit viele Briefe bekommen, wo es hieß: Wir beten für euch. Und ich habe mir dann schon vorgestellt, dass ein Großteil der Menschen so etwas nicht gesagt bekommt, sondern irgendeine Phrase zum Ausdruck des Mitgefühls wie „Unser Beileid!“. Dieses für uns Beten hat für mich einen deutlich höheren Stellenwert gehabt. Ich habe dann überlegt, wer wohl noch alles für uns betet, dadurch habe ich mich getragen gefühlt und eine tiefe Dankbarkeit dafür entwickelt. Mit dem Buch haben wir eine Möglichkeit gefunden, unserer Dankbarkeit besonders Ausdruck zu verleihen. Das hat nochmal eine andere Qualität als unser Vortrag. Man kann jederzeit darin blättern und sich als Leser auch immer wieder neu inspirieren lassen, von unserer Erlebnisreise, mit vielen großen und kleinen Dingen, wie zum Beispiel der Schlagzeile in einer großen Tageszeitung: „Deutschlands größte Suchaktion“. So etwas erlebt ja nicht jeder in einer ähnlichen Situation, da habe ich auch gemerkt, dass wir intensiv Zuwendung erfahren, damit unser Sohn gefunden wird. Schließlich führten meine „20 Punkte“ aus dieser Zeit, quasi ein „Best of“ meiner eigenen Reflektionen, gepaart mit tiefer Dankbarkeit, dazu, andere Menschen von unseren speziellen Erlebnissen profitieren zu lassen. Bewusstes Vergeben ist hier ein großer Schritt, um loszulassen und nicht zerstörerisch an Hass, Verzweiflung oder Rachegedanken festzuhalten. Mit einem Buch lässt sich das im Gesamtkontext am besten ausdrücken.
Sandra Schlitter Da haben uns dann auch liebe Menschen unterstützt, die nicht wollten, dass wir dieses ungewohnte Pensum selber erarbeiten, ebenso wie das Gespräch mit dem Ghostwriter, das für eine fortgesetzte Aufarbeitung sorgte. Die Leser können sich während des Lesens mit uns verbinden, indem sie unsere Sichtweisen emotional identifizieren und Verständnis für den Gesamtzusammenhang entwickeln. Für uns war es hier auch wichtig, dass Menschen unsere Vorgeschichte von Grund aus nacherleben können und verstehen, auf welche Weise wir mit unserem Glauben in das mit Mirco Erlebte gingen, was dann schließlich zur für den Leser nachvollziehbaren Vergebung führte. Dazu gehört ebenso ein Eindämmen quälender Gedanken, was mit dem eigenen Kind passiert ist, um nicht in eine ausweglose Abwärtsspirale zu geraten. Das ist mir gelungen, und das gelingt jedem Menschen ausschließlich in der Identifikation mit der Eigenverantwortung und durch das Abgeben an Gott.
Nettetal aktuell dankt Sandra und Reinhard Schlitter für die freundliche Aufnahme und das sehr herzliche Gespräch.
(Medienagentur Niederrhein, Susanne Jansen. Foto: Schlitter.)