Für ein „Dittchen“ Bonbons


Serie: Eine Kindheit in Ostpreußen – Teil 2

Kaldenkirchen (sp). Günther Tlotzek erblickte im Jahr 1923, im ostpreußischen Landkreis Rastenburg, das Licht der Welt. Er wuchs, gemeinsam mit zwei Brüdern und einer Stiefschwester, bei seiner Mutter, auf. Dies ist die Fortsetzung seiner Kindheitserinnerungen:

Gerne denke ich an die frühe Zeit zurück, als meine Uroma noch lebte. Sie, und auch meine Oma und mein Opa haben mir viel gegeben, und mich wesentlich geprägt“, meint Günther Tlotzek. Eine meiner ersten Erinnerungen sind eng mit meiner Uroma Kirstein verknüpft, die bis zu ihrem Tode bei meiner Oma Auguste Nossenheim lebte“, berichtet er verklärt. „Damals wurde bei meiner Oma etwas gefeiert. Ich erinnere mich nicht mehr daran, was es war. Jedenfalls spielten wir Enkelkinder, acht an der Zahl, mit mir als Jüngstem, draußen im Garten. Es war sehr lustig. Wir spielten fangen und verstecken und tobten herum.“ Schließlich rief einer der Älteren spontan: „Ich habe Durst, ich gehe zur Oma, mir etwas zu trinken holen.“ Die Anderen eilten hinterher („Ich auch, ich auch!“), ins Haus der Oma, den kleinen Günther als Schlusslicht im Schlepptau.

Das Erste der Kinder riss die Tür auf, erstarrte abrupt zur Salzsäule und brüllte nach einer Schrecksekunde aufgeregt: „Die Hexe sitzt da!“, woraufhin sich alle Kinder auf dem Absatz herum drehten und in den Garten zurück flüchteten, so schnell sie konnten, entsinnt sich Günther. „Nur ich blieb mit gleichmütigem Gesichtsausdruck im Türrahmen stehen und verstand nicht, was passiert war. In der Ecke, am Fenster, saß derweil meine Uroma im Lehnstuhl und schaute mich mit ernstem Gesicht an, während ich reglos verharrte“, so erinnert er sich. Schließlich habe er bemerkt, wie sich der Gesichtsausdruck seiner Uroma allmählich entspannte, sie weicher und freundlicher blickte. „Sie winkte mit dem Finger, dass ich zu ihr kommen solle, und ich gehorchte. Dann setzte sie mich auf ihren Schoß und begann, sich liebevoll mit mir zu unterhalten“, erinnert sich Günther lächelnd.

Von da ab saß er oft, gemeinsam mit seiner Uroma, am Fenster und beobachtete, was draußen vor sich ging. „Erst viel später konnte ich diese seltsamen Erlebnisse einordnen“, erklärt der Kaldenkirchener, „meine Uroma konnte den Lärm, den wir Kinder verursachten, in ihrem Alter einfach nicht gut vertragen, und sie war auch recht ungeduldig, was die anderen Kinder wohl verängstigt hat.“ Damals habe außerdem noch alles wesentlich strenger gewirkt als heute: „Zum Beispiel musste meine Oma ihre Mutter mit „Sie“ ansprechen, denn das Duzen galt noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts als respektlos. „Wenn meine Uroma etwas wollte, hat sie nicht gerufen, sondern mit ihrem Spazierstock, der einen silbernen Knauf besaß, auf den Fußboden gestampft. Und meine Oma musste spuren. Das war für die damalige Zeit normal, wirkte aber natürlich auf uns Kinder trotzdem drakonisch“, beschreibt Günther die Zeit, noch weit vor dem Zweiten Weltkrieg.

Jedenfalls war ich von nun an der Liebling meiner Uroma und profitierte auch davon“, erinnert sich der 93-Jährige augenzwinkernd, „sie trug einen langen, schwarzen Rock, so, wie es sich damals für alte Leute geziemte. In der Innenseite war eine Tasche, in der sie Geld aufbewahrte.“ Oft habe sie ein wenig ihren Rock gelupft, um ihm ein „Dittchen“, ein Groschenstück (10 Pfennige), zu geben. „Das war damals viel Geld und dafür erhielt man schon eine große Tüte Bonbons“, erinnert er sich.

Einmal habe seine Uroma zu ihm gesagt: „Jungchen, ich werde ja bald sterben. Versprichst du mir, wilde Stiefmütterchen auf meinem Grab zu pflanzen?“ Da habe er doch geschluckt, aber schnell genickt und ernsthaft bejaht. Als seine Uroma gestorben war, erzählte er seiner Oma von deren besonderem Wunsch. „Weißt du denn, wo du welche finden kannst?“, wollte sie gütig wissen. „Bereits bevor meine Uroma uns verließ, hatte ich eine Stelle gefunden, auf der wunderschöne Stiefmütterchen blühten. Oma gab mir einen rostigen Löffel zum Ausgraben. Ich holte flugs die Gewächse und pflanzte sie auf dem frischen Grab.

Nun, da ich mein Versprechen erfüllt hatte, fühlte ich mich zufrieden und erlöst.“

Fortsetzung folgt…

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Der pfiffige Dreikäsehoch Günther Tlotzek. Foto: Tlotzek

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Oma Auguste und… Foto: Tlotzek

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… August Nossenheim. Foto: Tlotzek

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